Kaum ein Jahrzehnt ist so verschrien als trashig wie die 90er, man muss sich nur mal Bilder angucken, wie man da herumgelaufen ist. Ich bin in den 90ern zum Jugendlichen gereift, da trägt man sowieso meist konformistisch alles das, was die Anderen tragen oder eben nonkonformistisch das genaue Gegenteil, ich habe ziemlich präzise zum Jahrtausendwechsel meine Liebe zu Hawaiihemden entdeckt und trage sie seither unabhängig von der Mode der Zeit, aber in den 90ern habe ich, soweit ich Einfluss nehmen konnte und meine Mutter mir das nicht gekauft hat, darauf geachtet, dass es nicht zu bunt wurde, weil mich die knalligen Farben meiner Mitschüler & Freunde schon unruhig genug machten, da wollte ich wenigstens bei mir ein wenig Ruhe finden können. Ich war ein süßer kleiner Fratz, der gern grübelte aber auch sehr beliebt bei den anderen Kindern war, so dass ich ständig unterwegs war. Ich bin die Generation, die weiß was draußen spielen heißt und um ein Handy noch wirklich kämpfen musste. Was waren wir stolz auf unsere Bauziegel von Nokia und was haben wir Worte verschwendet nur um cool zu sein, haben uns SMS gesendet mit 16 nur um den Unterricht zu stören oder angerufen um den neuesten Jamba Klingelton zu präsentieren, das war dann aber schon Anfang der 2000er. Ich hatte als Kind keinen Computer, ich habe mit 10 Jahren einen Fernseher und einen SNES bekommen, doch die Hoheit über das Kabel hatte immer meine Mutter.. Das schlimmste Verbot war Fernsehverbot, nicht weil man kein Fernsehen konnte, sondern weil ohne das Gerät der SNES nicht spielbar war. Meine erste CD (man höre und staune war ein Sampler namens "Open House", das war als ich mich von meinem schrankgroßen Plattenspieler/Kassettenrekorder verabschieden musste. Ich habe mir irgendwann aus nostalgischen Gründen einen Satz alter DJ-Platten bei ebay bestellt und da sind unter anderem Klassiker wie "Mr. Vain" oder "Samba De Janeiro" dabei. Die Musik, die durch unsere Kinderzimmer hallte war eine Mischung aus der Musik, die uns unsere Eltern mitgegeben hatten, bei mir vor allem Elvis und Truck Stop (Rock'n'Roll und Country) und dem was wir im Radio hörten und zu der Zeit war eben Eurodance und Dancefloor der heiße Scheiß, kindgerecht aufgearbeitet von Schlümpfen und Mainzelmännchen, dazu habe ich mir Das Modul und Blümchen und jede Menge anderes NDD Zeug reingezogen. Man muss sich mal vorstellen, dass diese Musik auf WDR4 lief. Ein Sender, der eigentlich für Schlager und anderes deutsches Liedgut Richtung Volksmusik bekannt war. Irgendwann kamen dann 2 Unlimited und Scooter dazu und mit dieser Musik konnte man sich ja so unglaublich gut von dem abgrenzen was die Eltern hörten, dieses Utz Utz Utz gefiel denen gar nicht und man hatte seinen ersten Generationenkonflikt. Ach herrje das Mädchen auf der Schaukel hörte lieber Girl- und Boygroups, wobei ich nicht sicher bin, ob dieses Phänomen nicht erst in den 2000ern eingesetzt hat. Für mich wird sie immer einen Backstreet Boys Pulli anhaben. Das Eis im Sommer schmeckte großartig und die Sommer fühlten sich endlos an, man konnte noch auf der Straße spielen, ich als Dorfkind weiß noch wie ein Bauernhof riecht und die ganze umliegende Landschaft und wenn die ganze Gegend vom Geruch von frisch gemähtem Gras erfüllt ist. Wir haben uns an heißen Tagen auf die Gewitter gefreut, damit wir nach dem Regen in den Pfützen planschen konnten, auch hier gab es diese ganz besondere Luft zu riechen, wir haben auch ganz anders geschmeckt. Bei uns zuhause gab es keine Cola, das geschmacksintensivste war ein widerlicher Multivitaminsaft in den man mir meine Medikamente in Pulverform gekippt hat. Was war das für eine Geschmacksexplosion, als ich das erste mal ein VitaMalz trank und heute weiß ich, das was da einschoss war bloß der Zucker und das Malzaroma. Und es gab nichts, was uns aufhalten konnte, Träume und Kreativität durchströmten uns, ob es darum ging Geschichten zu erfinden, warum man weite Strecken zu Fuß ging ohne zu murren, das war dann einfach irgendeine Heldenreise, alles wurde mit Sinn aufgeladen, wir haben auf Geburtstagen Schnitzeljagden veranstaltet, meine Mutter hat sich zu jedem meiner Geburtstage Spiele ausgedacht, wir hatten Wasserbombem, Klopapiermumien, Eierläufe, einmal haben wir auf dem großen Parkplatz Völkerball gespielt. Zu meinem zehnten Geburtstag kam ein Zauberer und wir haben in der Garage eine "Kinderdisco" abgehalten. Ich hatte schon in anbetracht meines Schicksals oder gerade deswegen eine unbeschwerte Kindheit und dafür bin ich sehr dankbar. Und auch für die Freunde, die das möglich gemacht haben. Mit einigen habe ich heute noch Kontakt.
Wenn ich heute immer höre, 90er Revival Party und dies 90er und das 90er, dann wird in meinen Augen oft vergessen, dass das Ganze für meine Generation noch nicht so lange her ist, wir haben dieses Jahrzehnt mit Leben gefüllt, für mich braucht jede 90er Party im Endeffekt auch etwas Kindliches, Verspieltes, denn ich war definitiv zu jung, um auf Raves zu gehen, die LoveParade 1998 habe ich noch auf RTL2 im Fernsehen gesehen und war komplett gefangen, ich habe Borussia Dortmund 1997 die Champions League gewinnen sehen, weil ich lange aufbleiben durfte und am darauffolgenden Wochenende den Henkelpott in real in Dortmund sehen durfte, beim 2:1 Sieg gegen Köln und meinem ersten Stadionbesuch. Ich habe beim Martinssingen jedes Jahr so viel Süßkram mit nach Hause gebracht, dass mein Vater bis Weihnachten versorgt war. Ich glaube das einzig negative in dem Jahrzehnt war aus meiner Kindersicht der Tod von Falco, den ich im Krankenhaus aus dem Radio erfuhr, als ich nach meiner Transplantation in den Türmen der Uniklinik von Münster residierte.
Wisst ihr noch die Angst vor dem Jahr 2000 und dem Zusammenbruch aller computergesteuerten Systeme, weil... ja warum eigentlich, ich glaube das war eine dieser unglaublichen Massenhysterien, die ich nie nachvollzogen habe, das 2012er Ding mit dem Maya-Kalender war dagegen ein laues Lüftchen. Es gab Filme zum Thema und Künstler aller Richtungen haben sich damit auseinandergesetzt und dann war irgendwann 2000 und passiert war Nichts. Ich lernte Ende der 90er meinen Herzensmenschen kennen mit dem ich die letzten 25 Jahre eine echt ambivalente Zeit hatte. Aber das war neben meinem neuen Leben, was mir geschenkt wurde vermutlich eines der Top 3 Highlights des Jahrzehnts.