Der zweite
Weihnachtstag beginnt extrem spät, geweckt wurde erst um 7 Uhr und
dann hieß es kräftig Programm peitschen, um auch pünktlich
verspätet zur Dialyse zu kommen, dort habe ich dann die ersten
Scherze mit Schwester Fiesbeth gemacht und
mich 4 Stunden chillend auf neue Abenteuer vorbereitet. Auch hier
waren es wieder die Frauen, die mich faszinierten. Vor allem wohl die
Krankentransporterin, die mich samt Bett abholte, irgendwie erinnerte
mich dieses Mädel an jemanden, den ich kenne, vielleicht habe ich
sie aber auch einfach schon einmal hier irgendwo gesehen, oder auch
nicht, die Mädels hier sind alle ein Augenschmauß. Das ist soooo
unfair, weil es die Illusion nährt, dass man auch nur im Geringsten
eine Chance bei ihnen hätte, obwohl man genauerer Betrachtung ja
doch nichts weiter ist als der Schinken, der von A nach B gelangen
muss.
Sergej hatte heute seine erste Dialyse und meinte, dass es gar
nicht so schlimm war, wie er gedacht hat. Ja klar, dafür pennt er
jetzt auch schon wieder. Wahnsinn, der Kerl tut irgendwie den ganzen
Tag nichts ausser Schnarchen und Pfurzen, dreimal den lieben Alex
bitten, das Licht auszumachen oder eine Schwester zu rufen, damit er
die dann anmeckern kann, dass seine Infusion nicht läuft oder er zu
viel Wasser in den Beinen hat. Mit jedem Tag entwickelt er sich mehr
zum absoluten Opfer in meinen Augen. Entweder weil er immer mehr zur
Memme wird oder weil ich einfach immer besser mit meiner Situation
klar komme und nur noch die postiven Aspekte erkenne, wie zum
Beispiel die Tatsache, dass ich endlich mal den ganzen Tag hier
sitzen kann und nichts anderes tun muss, als zu mampfen und mir
diverse Filme reinzuziehen, die ich schon lange nicht mehr gesehen
hab. In diesem Sinne sollte ich vielleicht jetzt schon einmal so
etwas wie eine Liste der Filme machen, die bei der nächsten
Heimsuchung meiner Dortmunder Wohnung durch meine Eltern ins Archiv
zurück wandern sollen. Immerhin werden die mich ja gleich auch noch
besuchen und mir ein paar Kleinigkeiten mitbringen, einiges
mitnehmen, was ich hier nicht mehr zu brauchen glaube, denn scheinbar
kommen die Dinge hier jetzt doch noch ins Laufen und mein Auszug
beschleunigt sich auf unnatürlich schnelle Weise. Aber erst einmal
Ball flach halten, wenn ich zum 11. Januar hier raus käme, wäre das
schon ein deutlicher Erfolg in meinem persönlichen Logbuch, welches
ich ja eigentlich gar nicht wirklich führe.
Wie ist das eigentlich?
Ist das hier eigentlich noch Blogspot oder schon seit längerer Zeit
eine der detailliertesten Aufzeichnungen in meiner Autobiografie
überhaupt? Vielleicht ist es tatsächlich die autenthischste Phase
der Autobiografie, da sie quasi während des Erlebens entsteht, was
ja auch nicht wirklich oft jemand von sich behaupten kann, der über
sich und seine Geschichte schreibt. Normalerweise ist es immer die
lange Recherche der Vergangenheit, jene Vergangenheit, die dann im
Nachhinein auch immer eine andere Farbe bekommt, je nachdem wie sich
das Bewusstsein zum Sortieren entschieden hat, was als wichtig
eingestuft wurde und was einfach der Verdrängung zum Selbstschutz
zum Opfer gefallen ist. Die Wahrheit findet man in einer
Autobiografie oft nur zwischen den Zeilen und auch nur, wenn der
Autor nicht, wie ich durch diverse Persönlichkeiten gegangen ist,
die alle eine eigene Geschichte der Vergangenheit erzählen würden,
wenn man sie denn ließe.
Wie passend, dass ich morgen außer
einem Termin in der Psychosomatik nichts interessantes auf dem Zettel
der Erledigungen habe und dann erst wieder Freitag bei der Dialyse
auflaufen muss. Im Grunde entschleiche ich zusehendst dem
Patientenleben und werde zum Kurpatienten, der die Tage mit den
angenehmen Dingen des Lebens und der Beschauung der wohlgeformten
Früchte der Natur verbringen kann. Im Grunde wie so ein alter
Stelzbock, der im Altersheim den Ärschen des Betreuungspersonals
nach giert, bis er seine Hände nicht mehr bei sich lassen kann und
eine Backpfeife kassiert, wo eine Anzeige wegen sexueller Nötigung
die eigentlich richtige Reaktion wäre. Aber so einer bin ich nicht,
bei mir finden solche Dinge maximal im Kopf statt und das
wohlgeformte Wort ist das Schwert, mit dem ich den Jungfrauen zu
imponieren suche. Ein wenig kitschig gerade, aber niemand sagte es
wäre kein Platz für ein wenig romantische Verträumtheit in den
Gedanken eines Jünglings mit Samenstau. Wollen wir es mal nicht so
herunter spielen, eigentlich bin ich sexuell nicht gerade angetörnt
hier, aber die böse Kombination aus der männlichen Griesgrämigkeit
im Nebenbett und den Früchten des Fleisches auf zwei Beinen überall
um mich herum...
Ich möchte die Chance dieses Mal
nicht verpassen, vielleicht in 10 Jahren einmal „Danke“ sagen zu
können, für all die Hoffnung und die positiven Gefühle, die mir
meine Heilung ermöglichen, für die verspielte Fürsorge, das
Lächeln, die menschliche Wärme, trotz des Bewusstseins der
tickenden Uhr und der eigenltichen Überlastetheit. Irgendjemand
sollte sich einfach bei diesen Menschen bedanken, eigentlich jeden
Tag, aber wenn das nicht möglich ist, dann wäre ich gern der
jenige, der diesen Menschen zeigt, wofür sie das alles tun, der
ihnen das Gefühl zurückgibt, das Richtige zu tun, der die
Dankbarkeit zeigt, die leider viele Patienten beim Betreten der
Station zu vergessen scheinen. Selbst in der größten Not gebührt
es der Höflichkeit dankbar für Hilfe zu sein, auch wenn diese
Menschen das beruflich machen, es vergehen zu viele Stunden, in denen
man ihnen respektlos gegenüber steht und es für eine
Selbstverständlichkeit hält, dass sie sich jeden Morgen darum
kümmern, dass auch alle gewaschen und einigermaßen menschlich aus
ihren Betten treten können, keine Schmerzen haben, ihre Werte
bereits gemessen werden, nötige Blutuntersuchungen oder
Schmerzmittel abgearbeitet werden. Man kann das einfach gar nicht oft
genug erwähnen, dass dieser manchmal extrem stressige Job wichtig
ist, für viele überlebenswichtig,wie für mich. Ich stelle mir
gerade vor, wie wohl ein Krankenhausaufenthalt ohne die helfenden
Hände des Stationspersonals ablaufen würde. Das
Schlachthausbeispiel von vor ein paar Tagen drückt mir ins
Gedächtnis, Fleisch auf Halde gelegt und wenn die werten Herren in
Weiß die Muße haben, dann wird es mal beschaut, warten sie zulange
ist nichts mehr da zum inspizieren und das welke und verwesende
Fleisch stapelt sich in den Betten, weil es ja auch niemand wegräumt.
Irgendwann sagen sich die Ärzte dann auch, dass sie die Arbeit zu
abstoßend finden und warten in ihren Chefetagen auf neue
Lieferungen, um bloß noch zu forschen. Der menschliche Faktor
verschwindet und Krankenhaus bedeutet nichts anderes mehr als
Leichenschauhaus mit teilweise lebendigen Körpern. Klingt das
irgendwie bizarr abstoßend? Wie konnte ich denn jetzt so
schreckliche Gedanken entwickeln, wo doch die Sonne scheint und
eigentlich alles total blumig ist...
Na ja egal, gleich werden die
Parentas hier hereinplatzten und mir ein wenig Futter bringen, damit
ich weiter mampfen kann, eine meiner Lieblingsbeschäftigungen hier
oben im Turm. Es klingt als wäre ich die essgestörte Version von
Rapunzel und Sarumans Sohn, der zwischen dunklen Aussichten und
seinen Haaren bloß noch das Fressen im Kopf hat, obwohl er seine
Orkhorden auch in eine verrückte Mittelerde Schlacht auf der PS3
schicken könnte. Ich glaub ich fang schon wieder an zu überdrehen,
ich sollte mal scheissen gehen... wenn mein Sack nur nicht so ziehen
würde... das ist echt irgendwie unangenehm... Die Gedanken
wurden unterbrochen von den Erzeugern, die sich wie die bucklige
Verwandtschaft in die Hütte schlichen und man sich hätte fragen
können, ob sie vielleicht eher gekommen waren um mich um mein Geld
zu bescheissen oder mir Essen ab zu schwatzen. Aber die Gespräche
waren informativ und brachten dann vermutlich sogar einen Gewinn mit
sich, indem ihnen Ergebnisse anstanden. Außerdem konnten die
notwendigen Austausche gemacht werden, die dringend notwendig waren,
damit ich mich hier wieder etwas menschlicher fühle und weg komme
von der Gammelfleischvorstellung von heute Mittag. Mittlerweile ist
es dunkel und ich habe schon wieder ein wahnsinniges Abendmahl in
mich hereingeschlungen. Ich frage mich echt, wie es eigentlich
möglich ist, dass ich soviel essen kann, ohne dass es oben wieder
herauskommt und ich mich so fühle, als hätte ich das alles
gefressen, ja es sind wahre Fressattacken, ich befürchte das sie
immer noch von den Tabletten kommen, denn auch wenn es mir so
vorkommt, so lecker kann das alles gar nicht sein. Diese
systematische Nahrungsvernichtung durch meinen unstillbaren Hunger
fühlt sich teilweise an, als wäre ich so etwas wie ein Wolf
geworden... Das Äußere stimmt nicht ganz mit dem Überein, wie ich
mich fühle, aber wie stellt man sich so einen fressgesteuerten
Mutanten mit Katheterleiden und der neuen Selbsterkenntnis von „Das
Leben ist schön“ auch vor? Ich weiß es nicht, mir ist es auch
egal. Sergej bekam heute von Schwester Rabiata auch mal ne Unze Schmerzmittel,
damit er seinen schnarchenden Arsch auch mal aus dem Bett bewegt und
sich mal ein wenig daran gewöhnt, nicht mehr das vorsitzende
Russenfaultier zu sein, zu dem er sich die letzten Tage entwickelt
hat, fragt der Vogel mich doch ernsthaft, ob ich ihm wohl die Füße
ins Bett hebe. Ich hab das dann getan, weil ich auf mein Karma
bedacht bin und außerdem ein sehr hilfsbereiter Mensch, auch in der
Notsituation meiner selbst. Ich erwarte aber zum Glück von diesem
vergammelten Kerl keinen Dank, oder gar dass er vielleicht heute
Nacht ein wenig leiser schnarcht, oder irgendeine andere
Gefälligkeit, die er nicht in der Lage sein wird, einzulösen...
Es
ist einfach, wie es ist, wir hängen hier gemeinsam fest. Ich habe es
angenommen, morgen könnte ich vielleicht noch ein wenig Schlaf
bekommen, wenn der Freak bei seiner Dialyse ist, das würde mir ja
sehr gefallen, aber wir sollten uns vielleicht wieder ein bisschen in
Demut schulen, ich habe morgen selbst erst mal meine Psychosomatik
abzuwickeln und dann mal gucken, wo ich überhaupt stehe. Derzeit
würde ich sagen, dass ich angeschlagen bin, allerdings schon über
den Schock hinaus und relativ geordnet, klarer als die letzten Jahre
und deutlich positiver gestimmt, da es ja Dinge gibt, auf die ich
zugehen kann, der Sumpf ist zwar da, aber er ist nicht mehr nur
allgegenwärtig und eine Bedrohung sondern vor allem ein beinahe
überwundenes Hindernis, welches sich in die Geschichten meiner
Vergangenheit einreihen wird, wie die vielen anderen Hürden, die ich
nahm um hier her zu gelangen und auch wieder fort von diesem Ort, was
ja das Ziel ist.