12/26/2012

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Der zweite Weihnachtstag beginnt extrem spät, geweckt wurde erst um 7 Uhr und dann hieß es kräftig Programm peitschen, um auch pünktlich verspätet zur Dialyse zu kommen, dort habe ich dann die ersten Scherze mit Schwester Fiesbeth gemacht und mich 4 Stunden chillend auf neue Abenteuer vorbereitet. Auch hier waren es wieder die Frauen, die mich faszinierten. Vor allem wohl die Krankentransporterin, die mich samt Bett abholte, irgendwie erinnerte mich dieses Mädel an jemanden, den ich kenne, vielleicht habe ich sie aber auch einfach schon einmal hier irgendwo gesehen, oder auch nicht, die Mädels hier sind alle ein Augenschmauß. Das ist soooo unfair, weil es die Illusion nährt, dass man auch nur im Geringsten eine Chance bei ihnen hätte, obwohl man genauerer Betrachtung ja doch nichts weiter ist als der Schinken, der von A nach B gelangen muss.

Sergej hatte heute seine erste Dialyse und meinte, dass es gar nicht so schlimm war, wie er gedacht hat. Ja klar, dafür pennt er jetzt auch schon wieder. Wahnsinn, der Kerl tut irgendwie den ganzen Tag nichts ausser Schnarchen und Pfurzen, dreimal den lieben Alex bitten, das Licht auszumachen oder eine Schwester zu rufen, damit er die dann anmeckern kann, dass seine Infusion nicht läuft oder er zu viel Wasser in den Beinen hat. Mit jedem Tag entwickelt er sich mehr zum absoluten Opfer in meinen Augen. Entweder weil er immer mehr zur Memme wird oder weil ich einfach immer besser mit meiner Situation klar komme und nur noch die postiven Aspekte erkenne, wie zum Beispiel die Tatsache, dass ich endlich mal den ganzen Tag hier sitzen kann und nichts anderes tun muss, als zu mampfen und mir diverse Filme reinzuziehen, die ich schon lange nicht mehr gesehen hab. In diesem Sinne sollte ich vielleicht jetzt schon einmal so etwas wie eine Liste der Filme machen, die bei der nächsten Heimsuchung meiner Dortmunder Wohnung durch meine Eltern ins Archiv zurück wandern sollen. Immerhin werden die mich ja gleich auch noch besuchen und mir ein paar Kleinigkeiten mitbringen, einiges mitnehmen, was ich hier nicht mehr zu brauchen glaube, denn scheinbar kommen die Dinge hier jetzt doch noch ins Laufen und mein Auszug beschleunigt sich auf unnatürlich schnelle Weise. Aber erst einmal Ball flach halten, wenn ich zum 11. Januar hier raus käme, wäre das schon ein deutlicher Erfolg in meinem persönlichen Logbuch, welches ich ja eigentlich gar nicht wirklich führe.

Wie ist das eigentlich? Ist das hier eigentlich noch Blogspot oder schon seit längerer Zeit eine der detailliertesten Aufzeichnungen in meiner Autobiografie überhaupt? Vielleicht ist es tatsächlich die autenthischste Phase der Autobiografie, da sie quasi während des Erlebens entsteht, was ja auch nicht wirklich oft jemand von sich behaupten kann, der über sich und seine Geschichte schreibt. Normalerweise ist es immer die lange Recherche der Vergangenheit, jene Vergangenheit, die dann im Nachhinein auch immer eine andere Farbe bekommt, je nachdem wie sich das Bewusstsein zum Sortieren entschieden hat, was als wichtig eingestuft wurde und was einfach der Verdrängung zum Selbstschutz zum Opfer gefallen ist. Die Wahrheit findet man in einer Autobiografie oft nur zwischen den Zeilen und auch nur, wenn der Autor nicht, wie ich durch diverse Persönlichkeiten gegangen ist, die alle eine eigene Geschichte der Vergangenheit erzählen würden, wenn man sie denn ließe.

Wie passend, dass ich morgen außer einem Termin in der Psychosomatik nichts interessantes auf dem Zettel der Erledigungen habe und dann erst wieder Freitag bei der Dialyse auflaufen muss. Im Grunde entschleiche ich zusehendst dem Patientenleben und werde zum Kurpatienten, der die Tage mit den angenehmen Dingen des Lebens und der Beschauung der wohlgeformten Früchte der Natur verbringen kann. Im Grunde wie so ein alter Stelzbock, der im Altersheim den Ärschen des Betreuungspersonals nach giert, bis er seine Hände nicht mehr bei sich lassen kann und eine Backpfeife kassiert, wo eine Anzeige wegen sexueller Nötigung die eigentlich richtige Reaktion wäre. Aber so einer bin ich nicht, bei mir finden solche Dinge maximal im Kopf statt und das wohlgeformte Wort ist das Schwert, mit dem ich den Jungfrauen zu imponieren suche. Ein wenig kitschig gerade, aber niemand sagte es wäre kein Platz für ein wenig romantische Verträumtheit in den Gedanken eines Jünglings mit Samenstau. Wollen wir es mal nicht so herunter spielen, eigentlich bin ich sexuell nicht gerade angetörnt hier, aber die böse Kombination aus der männlichen Griesgrämigkeit im Nebenbett und den Früchten des Fleisches auf zwei Beinen überall um mich herum... 

Ich möchte die Chance dieses Mal nicht verpassen, vielleicht in 10 Jahren einmal „Danke“ sagen zu können, für all die Hoffnung und die positiven Gefühle, die mir meine Heilung ermöglichen, für die verspielte Fürsorge, das Lächeln, die menschliche Wärme, trotz des Bewusstseins der tickenden Uhr und der eigenltichen Überlastetheit. Irgendjemand sollte sich einfach bei diesen Menschen bedanken, eigentlich jeden Tag, aber wenn das nicht möglich ist, dann wäre ich gern der jenige, der diesen Menschen zeigt, wofür sie das alles tun, der ihnen das Gefühl zurückgibt, das Richtige zu tun, der die Dankbarkeit zeigt, die leider viele Patienten beim Betreten der Station zu vergessen scheinen. Selbst in der größten Not gebührt es der Höflichkeit dankbar für Hilfe zu sein, auch wenn diese Menschen das beruflich machen, es vergehen zu viele Stunden, in denen man ihnen respektlos gegenüber steht und es für eine Selbstverständlichkeit hält, dass sie sich jeden Morgen darum kümmern, dass auch alle gewaschen und einigermaßen menschlich aus ihren Betten treten können, keine Schmerzen haben, ihre Werte bereits gemessen werden, nötige Blutuntersuchungen oder Schmerzmittel abgearbeitet werden. Man kann das einfach gar nicht oft genug erwähnen, dass dieser manchmal extrem stressige Job wichtig ist, für viele überlebenswichtig,wie für mich. Ich stelle mir gerade vor, wie wohl ein Krankenhausaufenthalt ohne die helfenden Hände des Stationspersonals ablaufen würde. Das Schlachthausbeispiel von vor ein paar Tagen drückt mir ins Gedächtnis, Fleisch auf Halde gelegt und wenn die werten Herren in Weiß die Muße haben, dann wird es mal beschaut, warten sie zulange ist nichts mehr da zum inspizieren und das welke und verwesende Fleisch stapelt sich in den Betten, weil es ja auch niemand wegräumt. Irgendwann sagen sich die Ärzte dann auch, dass sie die Arbeit zu abstoßend finden und warten in ihren Chefetagen auf neue Lieferungen, um bloß noch zu forschen. Der menschliche Faktor verschwindet und Krankenhaus bedeutet nichts anderes mehr als Leichenschauhaus mit teilweise lebendigen Körpern. Klingt das irgendwie bizarr abstoßend? Wie konnte ich denn jetzt so schreckliche Gedanken entwickeln, wo doch die Sonne scheint und eigentlich alles total blumig ist...

Na ja egal, gleich werden die Parentas hier hereinplatzten und mir ein wenig Futter bringen, damit ich weiter mampfen kann, eine meiner Lieblingsbeschäftigungen hier oben im Turm. Es klingt als wäre ich die essgestörte Version von Rapunzel und Sarumans Sohn, der zwischen dunklen Aussichten und seinen Haaren bloß noch das Fressen im Kopf hat, obwohl er seine Orkhorden auch in eine verrückte Mittelerde Schlacht auf der PS3 schicken könnte. Ich glaub ich fang schon wieder an zu überdrehen, ich sollte mal scheissen gehen... wenn mein Sack nur nicht so ziehen würde... das ist echt irgendwie unangenehm... Die Gedanken wurden unterbrochen von den Erzeugern, die sich wie die bucklige Verwandtschaft in die Hütte schlichen und man sich hätte fragen können, ob sie vielleicht eher gekommen waren um mich um mein Geld zu bescheissen oder mir Essen ab zu schwatzen. Aber die Gespräche waren informativ und brachten dann vermutlich sogar einen Gewinn mit sich, indem ihnen Ergebnisse anstanden. Außerdem konnten die notwendigen Austausche gemacht werden, die dringend notwendig waren, damit ich mich hier wieder etwas menschlicher fühle und weg komme von der Gammelfleischvorstellung von heute Mittag. Mittlerweile ist es dunkel und ich habe schon wieder ein wahnsinniges Abendmahl in mich hereingeschlungen. Ich frage mich echt, wie es eigentlich möglich ist, dass ich soviel essen kann, ohne dass es oben wieder herauskommt und ich mich so fühle, als hätte ich das alles gefressen, ja es sind wahre Fressattacken, ich befürchte das sie immer noch von den Tabletten kommen, denn auch wenn es mir so vorkommt, so lecker kann das alles gar nicht sein. Diese systematische Nahrungsvernichtung durch meinen unstillbaren Hunger fühlt sich teilweise an, als wäre ich so etwas wie ein Wolf geworden... Das Äußere stimmt nicht ganz mit dem Überein, wie ich mich fühle, aber wie stellt man sich so einen fressgesteuerten Mutanten mit Katheterleiden und der neuen Selbsterkenntnis von „Das Leben ist schön“ auch vor? Ich weiß es nicht, mir ist es auch egal. Sergej bekam heute von Schwester Rabiata auch mal ne Unze Schmerzmittel, damit er seinen schnarchenden Arsch auch mal aus dem Bett bewegt und sich mal ein wenig daran gewöhnt, nicht mehr das vorsitzende Russenfaultier zu sein, zu dem er sich die letzten Tage entwickelt hat, fragt der Vogel mich doch ernsthaft, ob ich ihm wohl die Füße ins Bett hebe. Ich hab das dann getan, weil ich auf mein Karma bedacht bin und außerdem ein sehr hilfsbereiter Mensch, auch in der Notsituation meiner selbst. Ich erwarte aber zum Glück von diesem vergammelten Kerl keinen Dank, oder gar dass er vielleicht heute Nacht ein wenig leiser schnarcht, oder irgendeine andere Gefälligkeit, die er nicht in der Lage sein wird, einzulösen...
Es ist einfach, wie es ist, wir hängen hier gemeinsam fest. Ich habe es angenommen, morgen könnte ich vielleicht noch ein wenig Schlaf bekommen, wenn der Freak bei seiner Dialyse ist, das würde mir ja sehr gefallen, aber wir sollten uns vielleicht wieder ein bisschen in Demut schulen, ich habe morgen selbst erst mal meine Psychosomatik abzuwickeln und dann mal gucken, wo ich überhaupt stehe. Derzeit würde ich sagen, dass ich angeschlagen bin, allerdings schon über den Schock hinaus und relativ geordnet, klarer als die letzten Jahre und deutlich positiver gestimmt, da es ja Dinge gibt, auf die ich zugehen kann, der Sumpf ist zwar da, aber er ist nicht mehr nur allgegenwärtig und eine Bedrohung sondern vor allem ein beinahe überwundenes Hindernis, welches sich in die Geschichten meiner Vergangenheit einreihen wird, wie die vielen anderen Hürden, die ich nahm um hier her zu gelangen und auch wieder fort von diesem Ort, was ja das Ziel ist.

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