12/23/2012

Dreiundzwanzig

Der Tag vor Heilig Abend, nach der Nacht im Dschungel werde ich geweckt von den Amazonen der Station, die mit ihrem Charme beinahe Räume erhellen und jeden noch so frühen Morgen zum Sonnenbad der Glückseeligkeit machen. Klingt schon wieder absolut übertrieben, gelle? Das liegt hier an der Kombination aus absoluter Tristesse und Abwesenheit irgendwelcher Reize, mit der einzigen Ausnahme der Schwestern und dem alltäglichen Wahnsinn der Nichtigkeit, wie die einen Morgen um halb 7 nach unruhiger Nacht neben einem schnarchenden Ungeheuer aus dem Kaukasus zu beginnen und seine Hauptfreude aus dem Lächeln der Prakikantinnen und Schwestern zu ziehen, während man voller Hoffnung auf die erste Tagesmahlzeit wartet und immer wieder bemerkt, dass es im Krankenhaus eben vor allem das Wort krank ist, das den Tag bestimmt, wie gesund man sich auch fühlen mag. Das erste Drama kündigt sich bereits an, wenn die Gedanken vom Gang zur Morgentoilette zu kreisen beginnen, das Gefühl wieder frisch und reinlich zu sein unter der Abwägung der Strapazen, die dazu führen, sich so fühlen zu können. Ich weiß ja nicht, wie abnormal ich bin, aber mir scheint es hier eine Art umgekehrte Reihenfolge zu geben, die ich persönlich für unsinnvoll halte, ich esse eigentlich lieber erst und mache mich im Anschluss tagesfrisch. Und mit tagesfrisch meine ich sauber und frisch frisiert. Mitten in die Gedanken zur Morgenhygiene und der Reihenfolge der Martern, die kleinen Dinge des Lebens meistern zu können huscht die thrombosespritzende Eliza und versucht mit ihrem ganz eigenen Charme aus dominant und verspielt eine lockere Atmosphäre zwischen uns aufrecht zu erhalten. Das macht es auch für mich erträglicher, den Sinn, den ich nicht sehe in den Injektionen zu finden, den es ja dann trotz Einbildung und guter Propaganda irgendwie nur auf dem Papier gibt. Wie sagte doch heute morgen schon mein russischer Zimmergenosse so treffend, „Krankenhaus ist kein Kuraufenthalt“.
Während ich noch grinsend über die Neckereien im Bett hocke macht sich mein Kollege schon mit größter Sorgfalt für den Tag bereit, indem er das „Bad“ eindieselt und seinen von Wasser gefüllten Körper säubert. Und gerade als ich das ständige Plätschern und den süßlichen Duft russischen Moschusochsen aus meinen Gedanken verdränge betritt die Wochenendvisite das Zimmer. Ich hatte sie gestern schon wahrgenommen, allerdings nur teilweise, da ich dem Schlaf deutlich zugeneigter gewesen war. Heute aber konnte ich sie in ihrer Gänze erfassen und als eine deutlich positive Erscheinung identifizieren. Bestimmt wieder die Medikamente, die in meinem Kopf aus einer durchschnittlich attraktiven, ich vermute mal Assistenzärztin so etwas wie einen morgendlichen Engel in Weiß produzierten, die fast feengleich in den Raum hinein schwebte, ein Lächeln aufsetzte, sich nach dem Befinden erkundigte und weiter huschte, und das alles noch weit bevor es so etwas wie Sonne am Himmel zu erblicken gab. Es ist scheissefrüh, es ist Sonntag und man fragt sich, wie lang so ein Tag wohl werden kann, wenn alle wichtigen Dinge des Tages noch vor dem Frühstück von der Agenda verschwinden. Ob hier wohl irgendwem bewusst ist, wie sehr man unwichtige Dinge durch die Strategie alles innerhalb der ersten halben Wachstunde hochstilisiert und damit den Rest des Tages zur unausweichlichen Qual des Wartens auf irgendetwas, das nicht passiert degradiert? Oder wollen hier einfach alle den ganzen Tag eine ruhige Kugel schieben und nichts tun und dafür lohnt es sich dann wohl, morgens um 7!!! auf einen Sonntag das komplette Programm abzuwickeln? Ich bin mir nicht sicher. Aber Sicherheit sollte man sich hier sowieso abgewöhnen, das kann auf Dauer nur zur Enttäuschung werden, denn sicher ist bloß, dass der Tageslauf nicht anhält, irgendwie pletschert es so vor sich hin, Informationen sind der Kaffeesatz im Sieb der kaputten Maschine und niemand weiß, wann es neue gibt oder ob diese nicht vielleicht schon in der nächsten Sekunde verworfen werden können. Bislang habe ich keine weiterführenden Informationen erhalten, wie es mit mir weitergehen soll, klar morgen Dialyse aber sonst? Wer weiß schon, was das alles bedeuten soll? Schön war, dass mich gestern Abend noch mein Chirurg besuchte und mir ein gutes Gefühl hinterließ, als er mit seiner Arbeit zufrieden schien. Keine wirkliche Information für die Zukunft, bloß so etwas wie ein minimales Gefühl von Seelenfrieden, irgendetwas richtig gemacht zu haben, wenigstens vom Gefühl her. Gefühl insgesamt, eigentlich schon die größte Überraschung, denn eigentlich war ja das Gefühl in den letzten dunklen Tagen ein eher seltener Gast in meiner Persönlichkeit. Aber scheinbar ist es noch irgendwo in den Schluchten meines Ichs verborgen und wartet bloß darauf sich wie ein Phoenix aus der Asche auf ein Comeback vorzubereiten. Das könnte mir gefallen denke ich.
Doch erst einmal liegt ein weiterer grauer Tag vor uns, getaucht in trübstes Regenwetter mit dem Ausblick auf eine Menge Nichts im Umland der Uniklinik. Als hinge seit Wochen ein Schleier über dem Sein, jeden Tag das gleiche Bild, grau, grau und noch mehr grau, zur Abwechslung gibt es alle zwei oder drei Tage auch mal dichtes Grau in Form von Nebel, der die Sicht dann vollends einhüllt und das Gefühl der Ziellosigkeit, der alles durchdringenden Ungewissheit des Seins und Aussichtslosigkeit unterstützt. Ob Jaqueline wohl mit einem Kerl wie mir... ? Sollte ich echt schon wieder so weit sein, dass sich alle Gedanken bloß wieder auf die einzigen positiven Dinge meines Aufenthalts hier beschränken, weil das Nichtstun und Warten, unterbrochen von Schmerzen beim Husten verursacht durch den infektiösen Zimmernachbarn, den man mir hier hingelegt hat um mein Leid zu verlängern. Vielleicht ist das aber auch genau die Strafe, die ich in jenem Moment verdiene, eine Spiegelvariante meiner Selbst sozusagen. Mir zu zeigen, wie rücksichtlos ich all die Zeit meine Probleme als den Mittelpunkt aller Wichtigkeit dargestellt und nach außen proklamiert habe? Die Parallelen sind doch sehr auffällig, das großspurige Auftreten, das Sergej hier, Sergej da, „Schwester tu dies, Schwester tu das!“ verbunden mit der nörgeligen Unzufriedenheit und ständigem Meckern, Unverständnis in jeder noch so kleinen Geste, eigentlich ein netter Kerl, der sich wie ein Kotzbrocken aufführt, medikamentenbedingt? So werden es die Schwestern sich sicher einreden, um sich nichts vorwerfen zu müssen, denn ganz ehrlich, ihnen eine Schuld für solches Fehlverhalten anzudichten wäre vermessen und unfair. Die tun nun wirklich ihr Allerletztes, wie schrecklich es doch ist, dass hoffnungsvolle junge Frauen ihr Weihnachten mit undankbaren und größtenteils unansehnlichen kranken Menschen verbringen müssen, während überall anders die Familien zusammenrücken und sich dem Zauber von Weihnachten hingeben und vielleicht der ein oder andere friedliche Neuanfang gestartet werden mag. 
Wie vor 98 Jahren in den Schützengräben des ersten Weltkriegs. Keinerlei Fortschritt und doch sangen damals Feinde zusammen Weihnachtslieder und zeigten, dass der Mensch mehr ist als das kalte Bestienwesen, dass ich die meiste Zeit in ihm sehe. Ich stehe im 13. Stock am Fenster und blicke auf den Stadtrand von Münster, Regenwetter, Wind und alles erinnert irgendwie an den Nürburgring, die Anmut von Nibelungen Liedern, dazu ein hyperaktiver Russe, der von gutem Wetter spricht und einer schönen Stadt, als würde die Realität sich für ihn längst verabschiedet haben. Wer weiß, was sie ihm in die Arznei gekippt haben, ich glaube ja langsam, dass er gänzlich irre ist, fing er doch heute schon an mir zu erzählen, dass wir jetzt ab Morgen Waffenbrüder seien, weil wir beide Dialyseverwundete wären. Als ich gestern meine Kriegsdokus guckte empfand ich es schon fast als ulkig, dass ich plötzlich der jenige auf der Station zu sein scheine, der „SEI SOLDAT“ als Kommando ausgibt. Ich wüsste irgendwie wirklich gern, was aus diesem Verrückten geworden ist, der damals nachträglich gesehen, ja doch einen 12 Jährigen deutlich prägte mit seinen Durchhalteparolen im Schlamm der Nephrologie, von Blut verschmiert und im Schlachtengetümmel der Überlebenden. Wenn ich nicht so „reflektiert“ wäre würde ich fast behaupten, dass ich heute dieser alte Haudegen sein könnte....
Die Nordschleife als Galgenschlinge der Hoffnungslosen zieht sich enger um meinen Hals ohne, dass es eine Bedrohung des Lebens mit sich ziehen könnte. Bloß das Gefühl der Ausgeliefertheit, diese endlos wirkende Einsamkeit, ein Regentropfen im Meer der Strömungen, Fluten endloser Wässer hernieder stürzend, dem Wahnsinn doch so nah und ferner als ich es je war. Schwebend, pulverisiertes zerstäubtes Wasser, wie Dunsthauben aus Quasaren lebensspendendem Erdensaft, überall und nirgends, hier und dort, schwebend, durchsichtig, unsichtbar und doch massiv!
Das Mittagessen, Reis, Hähnchenflügel und Blumenkohl, so sehr durchgegahrt, dass es sogar mir einigermaßen geschmeckt hat, allerdings hatte ich noch nie diesen Drang gehabt, so etwas essen zu wollen. Mit ihrer bescheuerten Idee einer Diät schießen die sich nur so weit ins Bein, dass ich natürlich von Tag zu Tag abnehme, weil ich es einfach nicht mag, wenn man mir a) vorschreiben will was und b) wann ich es essen soll. Aber wenigstens schmecken die Gerichte einigermaßen, sogar die, die ich eigentlich gar nicht mag und bei einigen Dingen lasse ich mich ja auch ganz gerne überraschen, dass es doch schmecken kann, ich sage nur Eintopf am Vortag, da hätte man mit ner Wettquote gestern nen richtigen Jackpot gewinnen können, wenn man getippt hätte, ICH würde Eintopf essen. Medikamente schießt es mir in den Sinn! Vermutlich ist das tatsächlich der Hauptgrund warum ich nicht vor Wut rot anlaufe und stoisch einfach esse, was sie mir hinstellen, einfach weil die Medis mich so sehr betäuben, dass der Sinn der Sache einziges Entscheidungskriterium wird. Und diese ganzen Marmeladen, ich wusste nicht einmal, dass ich die mag, Rote Grütze, wie ich mich da rein setzen kann, verrückt!
Sergej scheint das Wetter wirklich zu gefallen, fasziniert steht er oft minutenlang am Fenster überblickt das verregnete Panorama und redet von Schnee bei 13 Grad, als sei es bloß eine Sache der Vorstellung sich einen Winterwunderwald mit Schneesturm und fliegendem Weihnachtsschlitten vorzustellen. Und Knecht Ruprecht oder Prinz Weihnacht halten sich den Bauch und lachen den strahlenden Kindern ins Gesicht.
Ich sehe da draußen nur einen wahnsinnig deprimierenden verregneten grauen Schleier, der wie die natürliche Abbildung meines Seelenzustands fungieren könnte, um mich herum scheint langsam so etwas wie Weihnachtsstimmung aufzukommen, doch in meinem Herzen ist bloß Winter. Genau so grau wie alles hier, der Tag gleicht bloß einer nicht gewährten Sonne und das seit Wochen, was wird es bloß für ein Gefühlschaos in mir auslosen, sollte ich sie jemals wieder zu sehen bekommen. Und wieder warte ich. Derzeit vor allem auf die Ankunft meiner Angehörigen, die mit mir den Sonntagnachmittag verbringen mochten, doch auch hier schwindet langsam erneut die Hoffnung, es dauert alles schon wieder sooooooo lang. Aber keiner kann da etwas für, die Zeiten sind halt so, wenn der Hobbit wandelt!
„Deine Augen machen Bling Bling und alles ist vergessen!“ Das könnte man hier auch des öfteren mal zu den Mädels sagen, die sich hier abrackern und mit den unzufriedenen Kranken und deren teilweise völlig überzogenen Ansprüchen konfrontiert sind. Eigentlich soll man ja nicht gehässig sein und sich über das Leid anderer erfreuen, aber mein ungeduldiger Freund hier auf der Bude könnte vielleicht mal ein wenig Demut gebrauchen, von nur Schnarchen und herum meckern wird man weder gesund noch sammelt man bei irgendwem Sympathien. Auch wenn man für die eigenen körperlichen Gebrechen nicht wirklich etwas können muss, sollte man doch wenigstens soviel Anstand und Geduld aufbringen, das Personal seine Arbeit erledigen zu lassen und nicht ständig nach der Schwester krähen, weil die eigenen Arterien zu verkalkt sind um eine vernünftige Bluttransfusion über die volle Distanz zu ertragen. Was soll ich eigentlich sagen? Ich welke hier Tage vor mich hin, verliere Stunde um Stunde von meiner Lebensuhr in der ich nicht aktiv bin, weil es nichts gibt, wofür ich mich aktivieren müsste... Und dieser Wurm sollte noch froh sein, dass er keine Schmerzen hat und was tut er stattdessen, wie ein Rohrspatz verbreitet er schlechte Laune und da bringt es auch nichts, dass er die Krankenhausküche schmäht und mir alles abgeben will, irgendwie sollte man sich doch auch mal ein wenig am Riemen reißen können, ich schaffe das doch auch und ICH bin psychisch ein Wrack und Geduld ist nun wirklich keine meiner heraus stechenden Eigenschaften. Aber ich schaffe es die Situation angemessen und im Rahmen der Gegebenheiten zu ertragen. Klar würde ich auch viel lieber Streifzüge durchs Gebäude machen und mich irgendwie davon ablenken, dass morgen Weihnachten ist und ich allein im Turm von Saruman festhänge und morgen dann den ruhigsten Tag des Jahres mit einer tollen Premiere der sogenannten „Spülung“ meines neuen Kathethers zu beginnen. Dazu noch eine tolle Dialyse, was könnte man sich besseres wünschen, wahrscheinlich bin ich dann morgen Nachmittag so dermaßen gerädert, dass ich an der Pseudo-Festivität einer kleinen Weihnachtssiesta den absoluten Spaß maximal Lestat zu Liebe spielen müsste, aber eigentlich ist mir das viel zu dämlich. Es könnte morgen doch tatsächlich der Tag werden an dem ich mich von den letzten menschlichen Emotionen meiner Kindheit und den damit verbundenen Traumata zu lösen vermag. Sehr passend dazu ist auch das Radioprogramm, wo ich gerade „Die young“ von Kesha durch die Boxen jage und dann fetzt direkt Cro hinterher und macht sogar mir gute Laune, lächerlich eigentlich, aber das die derzeitige Situation bizarr und lächerlich ist muss ich ja nun auch nicht in jedem Absatz dreimal erwähnen!
Mittlerweile ist es 15 Uhr und was hat sich geändert seit heute morgen? Hm kurz überlegen, NICHTS, ewig schnarcht der Sergej, nicht einmal laute Musik übertont das Urwaldgrollen seiner verrotzten Nebenhöhlen, ich bin nicht sicher ob es ihm selbst bewusst ist, wie sehr er mich damit in den Wahnsinn treibt, aber ich ertrage es mit Ruhe, Tee und dem Wissen, dass es ja nicht für immer ist. Irgendwann wird sein verdammtes Blut eingelaufen sein und dann wird er sich wieder aufmachen und verschwinden, auch wenn ich große Sorgen habe, dass ich diesen Jammerlappen nie mehr loswerde...

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