Der Tag vor
Heilig Abend, nach der Nacht im Dschungel werde ich geweckt von den
Amazonen der Station, die mit ihrem Charme beinahe Räume erhellen
und jeden noch so frühen Morgen zum Sonnenbad der Glückseeligkeit
machen. Klingt schon wieder absolut übertrieben, gelle? Das liegt
hier an der Kombination aus absoluter Tristesse und Abwesenheit
irgendwelcher Reize, mit der einzigen Ausnahme der Schwestern und dem
alltäglichen Wahnsinn der Nichtigkeit, wie die einen Morgen um halb
7 nach unruhiger Nacht neben einem schnarchenden Ungeheuer aus dem
Kaukasus zu beginnen und seine Hauptfreude aus dem Lächeln der
Prakikantinnen und Schwestern zu ziehen, während man voller Hoffnung
auf die erste Tagesmahlzeit wartet und immer wieder bemerkt, dass es
im Krankenhaus eben vor allem das Wort krank ist, das den Tag
bestimmt, wie gesund man sich auch fühlen mag. Das erste Drama
kündigt sich bereits an, wenn die Gedanken vom Gang zur
Morgentoilette zu kreisen beginnen, das Gefühl wieder frisch und
reinlich zu sein unter der Abwägung der Strapazen, die dazu führen,
sich so fühlen zu können. Ich weiß ja nicht, wie abnormal ich bin,
aber mir scheint es hier eine Art umgekehrte Reihenfolge zu geben,
die ich persönlich für unsinnvoll halte, ich esse eigentlich lieber
erst und mache mich im Anschluss tagesfrisch. Und mit tagesfrisch
meine ich sauber und frisch frisiert. Mitten in die Gedanken zur
Morgenhygiene und der Reihenfolge der Martern, die kleinen Dinge des
Lebens meistern zu können huscht die thrombosespritzende Eliza und
versucht mit ihrem ganz eigenen Charme aus dominant und verspielt
eine lockere Atmosphäre zwischen uns aufrecht zu erhalten. Das macht
es auch für mich erträglicher, den Sinn, den ich nicht sehe in den
Injektionen zu finden, den es ja dann trotz Einbildung und guter
Propaganda irgendwie nur auf dem Papier gibt. Wie sagte doch heute
morgen schon mein russischer Zimmergenosse so treffend, „Krankenhaus
ist kein Kuraufenthalt“.

Doch erst einmal
liegt ein weiterer grauer Tag vor uns, getaucht in trübstes
Regenwetter mit dem Ausblick auf eine Menge Nichts im Umland der
Uniklinik. Als hinge seit Wochen ein Schleier über dem Sein, jeden
Tag das gleiche Bild, grau, grau und noch mehr grau, zur Abwechslung
gibt es alle zwei oder drei Tage auch mal dichtes Grau in Form von
Nebel, der die Sicht dann vollends einhüllt und das Gefühl der
Ziellosigkeit, der alles durchdringenden Ungewissheit des Seins und
Aussichtslosigkeit unterstützt. Ob Jaqueline wohl mit einem Kerl wie
mir... ? Sollte ich echt schon wieder so weit sein, dass sich alle
Gedanken bloß wieder auf die einzigen positiven Dinge meines
Aufenthalts hier beschränken, weil das Nichtstun und Warten,
unterbrochen von Schmerzen beim Husten verursacht durch den
infektiösen Zimmernachbarn, den man mir hier hingelegt hat um mein
Leid zu verlängern. Vielleicht ist das aber auch genau die Strafe,
die ich in jenem Moment verdiene, eine Spiegelvariante meiner Selbst
sozusagen. Mir zu zeigen, wie rücksichtlos ich all die Zeit meine
Probleme als den Mittelpunkt aller Wichtigkeit dargestellt und nach
außen proklamiert habe? Die Parallelen sind doch sehr auffällig,
das großspurige Auftreten, das Sergej hier, Sergej da, „Schwester
tu dies, Schwester tu das!“ verbunden mit der nörgeligen
Unzufriedenheit und ständigem Meckern, Unverständnis in jeder noch
so kleinen Geste, eigentlich ein netter Kerl, der sich wie ein
Kotzbrocken aufführt, medikamentenbedingt? So werden es die
Schwestern sich sicher einreden, um sich nichts vorwerfen zu müssen,
denn ganz ehrlich, ihnen eine Schuld für solches Fehlverhalten
anzudichten wäre vermessen und unfair. Die tun nun wirklich ihr
Allerletztes, wie schrecklich es doch ist, dass hoffnungsvolle junge
Frauen ihr Weihnachten mit undankbaren und größtenteils
unansehnlichen kranken Menschen verbringen müssen, während überall
anders die Familien zusammenrücken und sich dem Zauber von
Weihnachten hingeben und vielleicht der ein oder andere friedliche
Neuanfang gestartet werden mag.
Wie vor 98 Jahren in den
Schützengräben des ersten Weltkriegs. Keinerlei Fortschritt und
doch sangen damals Feinde zusammen Weihnachtslieder und zeigten, dass
der Mensch mehr ist als das kalte Bestienwesen, dass ich die meiste
Zeit in ihm sehe. Ich stehe im 13. Stock am Fenster und blicke auf
den Stadtrand von Münster, Regenwetter, Wind und alles erinnert
irgendwie an den Nürburgring, die Anmut von Nibelungen Liedern, dazu
ein hyperaktiver Russe, der von gutem Wetter spricht und einer
schönen Stadt, als würde die Realität sich für ihn längst
verabschiedet haben. Wer weiß, was sie ihm in die Arznei gekippt
haben, ich glaube ja langsam, dass er gänzlich irre ist, fing er
doch heute schon an mir zu erzählen, dass wir jetzt ab Morgen
Waffenbrüder seien, weil wir beide Dialyseverwundete wären. Als
ich gestern meine Kriegsdokus guckte empfand ich es schon fast als
ulkig, dass ich plötzlich der jenige auf der Station zu sein
scheine, der „SEI SOLDAT“ als Kommando ausgibt. Ich wüsste
irgendwie wirklich gern, was aus diesem Verrückten geworden ist, der
damals nachträglich gesehen, ja doch einen 12 Jährigen deutlich
prägte mit seinen Durchhalteparolen im Schlamm der Nephrologie, von
Blut verschmiert und im Schlachtengetümmel der Überlebenden. Wenn
ich nicht so „reflektiert“ wäre würde ich fast behaupten, dass
ich heute dieser alte Haudegen sein könnte....
Die Nordschleife
als Galgenschlinge der Hoffnungslosen zieht sich enger um meinen Hals
ohne, dass es eine Bedrohung des Lebens mit sich ziehen könnte. Bloß
das Gefühl der Ausgeliefertheit, diese endlos wirkende Einsamkeit,
ein Regentropfen im Meer der Strömungen, Fluten endloser Wässer
hernieder stürzend, dem Wahnsinn doch so nah und ferner als ich es
je war. Schwebend, pulverisiertes zerstäubtes Wasser, wie
Dunsthauben aus Quasaren lebensspendendem Erdensaft, überall und
nirgends, hier und dort, schwebend, durchsichtig, unsichtbar und doch
massiv!

Sergej scheint
das Wetter wirklich zu gefallen, fasziniert steht er oft minutenlang
am Fenster überblickt das verregnete Panorama und redet von Schnee
bei 13 Grad, als sei es bloß eine Sache der Vorstellung sich einen
Winterwunderwald mit Schneesturm und fliegendem Weihnachtsschlitten
vorzustellen. Und Knecht Ruprecht oder Prinz Weihnacht halten sich
den Bauch und lachen den strahlenden Kindern ins Gesicht.
Ich sehe da
draußen nur einen wahnsinnig deprimierenden verregneten grauen
Schleier, der wie die natürliche Abbildung meines Seelenzustands
fungieren könnte, um mich herum scheint langsam so etwas wie
Weihnachtsstimmung aufzukommen, doch in meinem Herzen ist bloß
Winter. Genau so grau wie alles hier, der Tag gleicht bloß einer
nicht gewährten Sonne und das seit Wochen, was wird es bloß für
ein Gefühlschaos in mir auslosen, sollte ich sie jemals wieder zu
sehen bekommen. Und wieder warte ich. Derzeit vor allem auf die
Ankunft meiner Angehörigen, die mit mir den Sonntagnachmittag
verbringen mochten, doch auch hier schwindet langsam erneut die
Hoffnung, es dauert alles schon wieder sooooooo lang. Aber keiner
kann da etwas für, die Zeiten sind halt so, wenn der Hobbit wandelt!
Mittlerweile ist
es 15 Uhr und was hat sich geändert seit heute morgen? Hm kurz
überlegen, NICHTS, ewig schnarcht der Sergej, nicht einmal laute
Musik übertont das Urwaldgrollen seiner verrotzten Nebenhöhlen, ich
bin nicht sicher ob es ihm selbst bewusst ist, wie sehr er mich damit
in den Wahnsinn treibt, aber ich ertrage es mit Ruhe, Tee und dem
Wissen, dass es ja nicht für immer ist. Irgendwann wird sein
verdammtes Blut eingelaufen sein und dann wird er sich wieder
aufmachen und verschwinden, auch wenn ich große Sorgen habe, dass
ich diesen Jammerlappen nie mehr loswerde...
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