In den frühen Morgenstunden war ich extra pünktlich aufgestanden, um mich wenigstens bei Nayla persönlich verabschieden zu können, diese persönliche Verabschiedung wurde einer der tiefsten Momente des Jahres 2012 für mich, während sie schon im Begriff war, die Station in Richtung Heimat zu verlassen, trat ich aus meinem Zimmer, die Blicke trafen sich und wir hoben beide in einem Moment grenzenloser Zweisamkeit den Grußarm in die Luft, lächelten und wortlos, schlicht, anmutig, ihrer würdig trennten sich still unsere Wege. Was für ein charismatischer Mensch. Dann geschah erst einmal nicht mehr viel, ich gab mich einer ausführlichen Morgenpflege hin und genoss grinsend die Ereignisse, die kommen sollten, der meckernde Sergej konnte mich nicht aus der Fassung bringen, auch nicht seine lustigen Geschichten, dass man in Bielefeld mit 16 Leuten in einem Raum liegt und das auf Holzbrettern und das Mittagessen wird vom Müll gesammelt und wenn man aus dem Fenster blickt sieht man die Straßenhunde und hungernde Katzen. Als würde ich in ein Kriegsgebiet verlegt, ich fand die Vorstellung höchstgradig witzig, meiner Stimmung konnte das keinerlei Abbruch bescheren, ich hatte gestern mal die Zustände von manisch-depressiv sein in der Psychosomatik angesprochen und vielleicht habe ich zwar die letzten Wochen nicht wirklich bemerkt, dass dieser Teil der psychischen Störung allgegenwärtig ist, vielleicht unterdrückt durch Medikamente, vielleicht auch durch die ständige Notwendigkeit einer rationalen Entscheidungsfähigkeit vom Gehirn weggeschaltet, war es schon ein Hochgefühl, neben dem Rolli herzulaufen und eigenständig aus dem Krankentransportwagen in die Psychosomatik zu gehen, dort dann wieder die Chance zu haben mit jemandem zu reden und die eigenen Versuche es in den Griff zu kriegen als gut gelobt zu bekommen. Einerseits ist das natürlich eine schöne Bestätigung andererseits führt es wieder zu der Problematik meiner Selbstüberschätzung und der ganzen damit zusammenhängenden Dinge, wie dem Kontrollwahn, dem Gefühl, eine Ahnung zu haben, wo man eigentlich keine hat, einfach dieses Hochgefühl, besonders zu sein. Immerhin werde ich gleich entlassen, noch weit vor dem ursprünglichen Zeitplan der Ärzte, jedoch gefühlt genau so, wie ich das vorhergesagt hatte. Warum passiert das immer wieder? Meiner Demut hilft so etwas sicherlich nicht, auch bescheidener werde ich dadurch sicher nicht werden. Ich mache mir grad wirklich ein paar Gedanken, ob es schon die richtige Entscheidung ist, zu gehen, ob ich in Münster nicht vielleicht doch noch etwas Aufenthalt genossen hätte, ich werde die Schwestern und die Stationsbelegschaft schon deutlich vermissen, sogar Santos den kleinen brasilianischen Glatzkopf, der mit seinem Putzwagen den ganzen Tag über die Station schleicht. Und ich werde auch den leicht überhektischen Stationsarzt L. vermissen, der es dann am Ende doch nicht mehr schaffte noch eine kleine Abschiedsvisite einzurichten. Außerdem schaffte man es ja auch nicht, den Abtransport geordnet von statten gehen zu lassen, keine große Abschiedsparty, kein großer Zapfenstreich oder so etwas, mehr der Weg durch die Hintertür... Eine Verlegung nach Bielefeld, irgendwie klingt das doch nach einem großen Abenteuer. Vor allem, wenn einem bewusst wird, dass man mit Preußen Münster Hools unterwegs ist, die ihre Krankenfahrt mit mir als Lieferung wohl eher als Eroberungsfeldzug empfanden. Der Fahrer lästerte die gesamte Fahrt über die „Scheiss-Ostwestfalen“ und deren versaute Genmasse, während der Beifahrer die ganze Zeit irgendwelche Radiosongs mitsang und sich dabei extrem cool fühlte mit seiner Hipster Brille und der schnittigen Kurzhaarfrisur und den zwischenzeitlichen scheinbar für ihn witzigen Anekdoten über Ortsnamen, die er als Bielefelder Außenbezirke identifizierte, weil sie ja so abgefuckt seien. Die ganze Fahrt über lachten die beiden und verhielten sich, als wäre sie auf Drogen und der Beifahrer hatte auch noch diese leicht irre Lache und ich fragte mich ernsthaft, warum die nicht über die Autobahn gefahren sind. Am Ende war es egal, denn trotz allem waren sie recht nett, wenn auch wirklich anstrengend, aber bestimmt empfände man mich auch als anstrengend, wenn man mich engagiert hätte, ins Feindesland zu fahren, um dort ein Päckchen abzuliefern. Na ja, witzig war dann als wir in Bielefeld vor der Klinik parkten mal direkt vorm Haus und im Weg von allem. Richtig rüpelhaft rumpelten die beiden dann zur Information und die Sekretärin schien zu denken, dass ich deren Betreuer bin und nicht umgekehrt. Sie waren so nett mich noch im Wartezimmer abzusetzen und machten sich dann wieder auf ihre Heimreise, richtige Spacken, der Verdacht drängte sich mir kurz auf, dass die Welt vielleicht doch untergegangen war, als ich im Krankenhaus gelegen habe und bloß nichts davon mitbekommen habe, die Welt jetzt nur noch von den Chaoten bevölkert wurde. Dieser Verdacht drängte sich ja bereits auf, als mich der komische blaue Krankentransporter morgens darauf hinwies, dass ich noch Knusperreste im Bart habe, mit der Erwähnung, dass er mich trotz meiner Farben nett fände. Irgendwie ist dieses fixiert sein auf Fußball bei diesen Krankenfahrern und Transportertypen extrem ausgeprägt, also zumindest sprechen die „Stichproben“, die ich in den letzten Wochen des Öfteren nehmen durfte eine deutliche Sprache in diese Richtung. Für eine statistische Ungenauigkeit ist das ganze dann einfach nicht repräsentativ genug. Aber egal...
Bielefeld
Die Anmeldung hier ist schon deutlich ostwestfälischer als alles, was ich die
letzten beiden Wochen so durchchillt habe. Wie auf dem Amt zieht man eine
Nummer und wird dann aufgerufen und als würde man ein Reisebüro betreten
bekommt man plötzlich alle möglichen Werbebroschüren zur Klinik und dann werden
noch die Finanzen abgeklärt: „Herr Tickman, ich rufe mal gerade jemanden an, der
sie auf ihr Zimmer geleitet“... Wow, dachte ich... ohne dass ich danach frage,
außerdem ist das alles so sauber hier, scheint als wäre ich auf eine bessere
Weide umgezogen. Eine gefühlte Ewigkeit später kam dann auch der junge
entnervte Zivi und nahm mir mein Täschchen ab und begleitete mich zum
Fahrstuhl, mit dem es dann eine Station hoch ging auf einen heruntergekommen
engen Flur. Der in einem Labyrinthsystem angelegt, wie ein Bunker ausgelegte
Komplex schien nicht mehr der neueste zu sein und dennoch glänzte der gebonerte
Boden, alles machte einen recht gepflegten Eindruck, auch wenn man der Klinik
ihr Alter deutlich ansah. Aber wir wollen hier mal niemanden vorverurteilen,
innerhalb kürzester Zeit sprachen mich bereits zwei sehr chicke junge Damen an
und erkundigten sich, ob sie etwas für mich tun könnten, die erste zeigte mir
den Aufenthaltsraum auf der Station, wo ich noch ein wenig warten sollte, weil
mein Zimmer noch nicht komplett geräumt war. Die zweite bat mir direkt etwas zu
trinken an und fragte mich nach der Sorte Mineralwasser, die ich trinken
wollte, der erste Schock, es gibt verschiedene? Wahnsinn. Ich entschied mich
für die Medium Variante und bekam dann eine gekühlte Flasche zum
Selbsteinschenken und vertiefte mich ein wenig in die Broschüre der Klinik und
die detaillierte Frühstücks und Abend-Speisekarte, auch diese war fast schon
als dekadent zu bezeichnen, die Auswahlmöglichkeiten und Kombinationen waren im
ersten Moment kaum fassbar. Während ich so da saß, kam dann auch der
Stationsarzt vorbei und holte sich ein paar ihm fehlende Informationen, es
handelte sich dabei um den Assistenzarzt Achmed, der sich tatsächlich einfach
nur mit den Worten: „Hi, ich bin Achmed, der Arzt!“, vorstellte und dann
grinste. Ich dachte schon an ein Deja Vu wegen meines lybischen Freundes in
Münster, aber das Deutsch von Achmed war deutlich flüssiger und auch für mich
komplett verständlich. Das einzige was mich beschlich war die Gefahr, dass der
Herr sehr strebsam sein würde und viele unnötige Dinge in wildem Aktionismus
anleiern wird. Mal sehen, wenn der Oberarzt ein vernünftiger Typ ist, wird der
den sicher im Zaum halten können und wenn man vernünftig mit Leuten spricht,
sind sie ja auch meist für Argumente zugänglich, ich werde mal versuchen so
offen wie möglich die Situationen, die da kommen zu meistern, alles so weiter
machen wie bisher, hinterfragen, was nötig ist und es dann durchziehen. Solange
die Informationen frei zugänglich bleiben und ich involviert bleibe und mir
nicht bevormundet vorkomme bin ich der brave Patient Alex und niemand wird
ein Problem mit mir haben. Eine Blutentnahme wurde mir bereits angekündigt, die
Einzige, ich lasse mich am besten gar nicht auf solche Lügen ein und stelle
mich mal auf tägliche Entnahmen ein, neue Klinik, neue Tests, da muss man sich
ja keiner Illusion hingeben, um dann später nur wieder enttäuscht zu werden.
Aber lassen wir ihnen mal ihre Chance. Die Chance mir zu helfen, was ein
erhabener Genuss für jeden Menschen muss das sein, dem Tickman zu dienen.
Bleiben wir mal cool und genießen die Show.