„Der Morgen stirbt nie“, war einst der deutsche Titel eines James Bond Films, den ich noch in die Kategorie anschaubar einsortieren würde auch wenn der Soundtrack und die Story doch eher von einer nicht hochqualitativen Natur waren. Aber hier ist es ungefähr genauso. Morgens passiert hier im Grunde alles, doch heute war kein besonderer Tag. Es ist Morgen und die netten Schwestern wecken das Patientenvolk, eigentlich ist alles wie immer, doch mitten ins anschließende Frühstück platzt doch so eine Knallcharge und will mir Blut abnehmen. Wieso das denn jetzt auf einmal wieder, die haben hier doch alle den Schuss nicht mehr gehört? Ach das habe ich schon so oft gedacht, dass es einfach trotzdem jedes mal einer neuen Überraschung eigentlich gar keine sein müsste. Und doch springe ich wie ein untrainierter Hund jedes mal auf den ersten Ball, den man mir hinhält an und wundere mich. Aber eigentlich ist es mehr so ein... „Oh, welch eine Überraschung, eine Überraschung!“ Also ließ ich es einfach über mich ergehen, vielleicht ist es ja ein gutes Omen. Tatsächlich war es das wirklich, denn kurz darauf kam Doktor L. Und in diesem Fall steht das L nicht für LOVE, oh Gott, habe ich das wirklich gerade geschrieben, hart. Müssen die Glücksgefühle sein, die seine Botschaft in mir auslösten. Denn laut seiner Aussagen würde ich noch morgen nach Bielefeld verlegt, wenn man mich dort in die Trainingseinheit zur CAPD bekäme, darum wollte er sich kümmern und es dann in die Wege leiten. Ich war erstaunt, dass er diese Aktion innerhalb kürzester Zeit, oder auch während ich einmal mehr mein Leben rezitieren konnte in der Psychosomatik, was ich scheinbar schon einmal gemacht haben soll, daran allerdings so gut wie keine Erinnerung habe. Ergebnisse dieses Gesprächs sind wohl vor allem die Bestätigung dessen, was mir schon bewusst war, dass ich nämlich einer Persönlichkeitsstörung unterliege, genaues wollte man mir noch nicht bestätigen, ich bin eigentlich sehr zufrieden mit der Herangehensweise an die Geschichte, direkt morgen bevor ich hier die Zelte abbreche, werde ich erneut dort auflaufen und nochmal eine Runde quatschen können. Ist schon witzig, wie sich alles entwickelt, wenn man einfach anfängt einen Weg zu gehen, wie sich dann die einzelnen Teile des Weges vor einem offenbaren, wie in einem dieser Echtzeitstrategiespiele, in denen sich der „Nebel des Krieges“ legt, wenn man mit Einheiten eines ausreichenden Sichtradius in unbekanntes Gebiet zieht. Na ja jedenfalls war das Gespräch mit der Psychiaterin höchstgradig erquickend und als ich zurück kam aus der Psychosomatik, gab es direkt einen dicken Nachschlag, nicht nur, dass schon fast wieder Essenszeit war, Doc L. Teilte mir auch mit, dass es sich wohl tatsächlich verwirklichen ließe mich noch morgen zu verlegen, dann nach Bielefeld, ein wenig näher an die Heimat und das klingt dann doch schon deutlich beruhigender, immer in kleinen Schritten zum Endziel 10. Januar. Dann in Bielefeld 2 Wochen absitzen und irgendwie überleben, aber dann geht’s heim und ich habe eine der größten Krisen meines Lebens halbwegs unbeschadet und mit vielen neuen Erfahrungen überstanden und bin hoffentlich daran gewachsen, es fühlt sich zumindest schon einmal so an.
Allerdings musste ich dafür jetzt noch einmal sehr stark sein. Eine zweite Dialyse innerhalb von 24 Stunden stand an und mein Essen würde auch erneut zum Schlingen verkommen, denn es war quasi ein „Do or Die“ Auftrag, den mir der Doc anbot, zugreifen oder Chance verstreichen lassen und noch eine Woche warten mit der Entscheidung. Ob die wohl mein Bett brauchen? Diese Frage wirft sich schon auf, wenn man das Gefühl bekommt, dass man losgeworden werden soll. Mir ist es egal, ich schlage ein und hoffe, dass es nicht zu anstrengend wird, melde mich noch kurz bei der Dread-Lady, dass sie, wenn sie mich besuchen will, nur noch heute in Münster die Chance hat und schlinge mein Mittagessen in mich herein. Nachdem ich das hinter mir habe und noch etwas Zeit habe lege ich mich kurz aufs Bett und freue mich einfach mal einen Moment, dass es bald vorbei ist. Klar natürlich wird es erstmal noch ein wenig härter, so wie man hier betreut wird ist es in Bielefeld sicher nicht zu machen, vor allem werden mir meine drei Premium-Schwestern fehlen... aber die Heimat rückt näher, irgendwie näher und doch mehr in die Ferne.
Sergej vermisse ich wahrscheinlich überhaupt nicht, denn irgendwie hat er außer Schnarchen und Rummeckern noch nicht viel zu meinem Aufenthalt hier beigetragen, auch wenn er an sich ein ernsthaft guter Typ ist, nur ein wenig spackig halt. Aber vielleicht ist das auch einfach nur der Frust über seinen Krankheitsverlauf. Irgendwie wird mir immer wieder bewusst, dass ich ja schon eine Ausnahmestellung habe, immerhin bin ich nicht hier weil mein Körper plötzlich den Dienst quittiert hat und kaputt gegangen ist, sondern weil ich mich aktiv um diesen Zustand bemüht habe. Wohl auch deswegen nimmt man mich in der Psychosomatik irgendwie ernst, es ist ja überhaupt mal ein recht schönes Gefühl ernst genommen zu werden. Vor allem dann, wenn man selbst so ein wenig auf der Suche nach dem ist, was wirklich hinter der ganzen Scheisse steckt, die man sich so in den letzten Jahren angetan hat. Als dann in der Dialyse das große Verabschieden losging und ich dachte, dass die indische Prinzessin nur noch wartete, dass ich sie umarmen möge, Schwester Fiesbeth mit einer Träne im Auge ein Wiedersehen herbeisehnte, ohne dass es mir schlechter gehen sollte, Schwester Iris in ihrer ganz eigenen leicht trottelig wirkenden Weise den Patienten Alex auf seine Dialyse vorbereitete kam ich mir vor wie in einem der 17 Enden von „Herr der Ringe“ in dem auch der letzte Wurm noch seine eigene Abschiedsszene hat. Glücklicherweise unterbrach die „Dread-Lady“ dieses Schrecktakel mit ihrem Erscheinen und wir hatten einen spaßigen Nachmittag! Wenn jemand es schafft, sich bei einer dieser unsäglichen Nachmittagskochshows so zu amüsieren, dass es wirklich schwer fällt die Fassung zu bewahren, dann ist das schon jemand besonderes. Generell ist die „Dread-Lady“ eine sehr wichtige Person für mich geworden, auch wenn uns eigentlich irgendwo das Leben trennt. Aber irgendwo trennt doch jeden Menschen von seinen Artgenossen das Leben als solches. Nur raufen sie sich trotzdem immer wieder zusammen und ab und zu gibt es dann halt auch mal eine Idealkombination, in der man auf jemanden trifft, der wie der perfekte Gegenpol zu funktionieren scheint und das ist dann immer wieder ein Gefühl großen Glückes für beide Seiten. Und genau so jemand ist Brie– die Dread Lady. Ich weiß nicht, irgendwie war ihre Stimme eine echte Wohltat für meine geschundenen Ohren, neben Sergej und dem immer gleichen Tonarten der Station war es ihre Stimme und die der nubischen Königin, die mein Ohr liebkosten. Hatte ich Karl erwähnt, der beeindruckt wirkte, dass ich jemanden wie Brie an mein Bett holen konnte als Besucherin, irgendwie hatte ich generell den Eindruck, als würden irgendwie alle denken, dass zwischen uns irgendwas laufen würde... hm, vielleicht sollte man das ja auch einfach mal machen, auch wenn es irgendwie gegen jede Wahrscheinlichkeit zu sein scheint, ich bin einfach nur komplett ausgehungert, nicht dass sie nicht echt ein großartiges Exemplar der weiblichen Spezies ist, aber halt einfach nicht mein Typ. Habe ich eigentlich noch so etwas wie einen Typ, nicht dass ich mittlerweile notgeil, die weibliche Form als bespringbar identifiziere und es im Grunde nur noch darum geht, ob SIE Titten hat oder so? Vielmehr habe ich mich weiterentwickelt und sehe größtenteils über das reine Aussehen hinweg, weil jegliche Oberflächlichkeiten seit den letzten Ereignissen keinerlei Bedeutungen mehr für mich haben. Wie krass es ist, dass ein Mensch, den ich vor einem halben Jahr erst wirklich kennenlernte a) ein Teil des Puzzle-Positiv geworden ist und b) so irre ist und für mich einfach mal eine Stunde mit dem Roller nach Münster tuckert und das im wundervollen Dezemberregen dieses Jahres. Keine Ahnung, womit ich sowas wieder verdient habe, aber mit solchen Fragestellungen habe ich mich ja in der Psychosomatik auseinander zu setzen. Habe ich das alles wirklich verdient, darf ich die Chance auf ein neues Leben noch einmal wahrnehmen? Ist das gerecht, habe ich nicht verdient jetzt den Schmerz zu ertragen? Die klare und einzige richtige Antwort ist: NEIN! Nicht zur Gerechtigkeitsfrage, vielleicht auch zu der, denn eine wahre Gerechtigkeit, so wie eine ausgeglichene Waage gibt es in der Realität nicht, weil es eine ausgedachte Idealvorstellung der Menschen ist, dass es eine Art Ordnung im Chaos gibt. Das Chaos ist die Realität und wenn man sich das bewusst macht, wird es deutlich leichter sich damit abzufinden, dass es nicht „Die Gerechtigkeit“ geben kann. Auch wenn ich die Idee des großen „Karmastroms“ in dem Alles zusammenhängt als sehr verlockend empfinde und auch davon überzeugt bin, dass es so etwas tatsächlich gibt, denke ich doch, dass die Basis dessen nicht die Ordnung sondern das Chaos ist und aus Chaos sind wir und zu Chaos werden wir.
Wie bin ich jetzt von den sinnfreien Donnerstagnachmittagskochshows zu so etwas essentiellem wie der Chaostheorie und den Fragen der Herkunft der menschlichen Spezies gekommen? Ach ja, das wird wohl der Einfluss der „Dread-Lady“ gewesen sein, die meine Gedanken durcheinandergewirbelt hat, aber im absolut positivsten Sinne, welchen ich mir vorstellen könnte. Und ich hab die ganze Zeit nicht an Sex gedacht, auch wenn mir das nie einer glaubt, wenn man so mit den Händen unter der Decke im Dialysebett liegt. Schweine, die ihr so was denkt, echt, die Hände sind nur da unten, weil es meistens schweinekalt in der Bude ist und man sonst nach vier Stunden Frostbeulen an den Handgelenken hat. Außerdem war Hitler schwul, habe ich gehört und der Hobbit war heute auch nicht neben mir. Ich nutzte die Zeit mit Brie mich in einer meiner Lieblingsdisziplinen zu profilieren, der guten alten Lästerei. Lange hatte ich mir bloß alles angehört, was so um mich herum geschah, so ungefähr 15 Tage lang mit heute, es wurde dann doch mal Zeit für einen kleinen Rückschlag, Sergej war natürlich das Hauptopfer meiner pööösen Schmähungen, denn er hatte sich in den letzten Tagen wirklich aufgeführt, wie das letzte Waschweib, das ewige Rumgejammere darüber wie schlimm doch sein verdammtes Schicksal sei, war nur die Spitze des Eisbergs. Ich hatte ihn ja als Russen identifiziert, aber irgendwas passte das nicht zu dem Image des jämmerlichen hyperaktiven Russen, ich wusste nur irgendwie nicht, was genau es war. Aber ich werde ja noch eine Dschungelparty miterleben und dann morgen früh. Aber erstmal nutzte ich jetzt die Zeit mich über ihn lustig zu machen, voll arschig eigentlich, der würde auch nicht über mich lästern, außer am Telefon, wenn er in Landessprache mit der Familie redete, auch das klang irgendwie am Ende gar nicht mehr ganz so russisch, wie ich dachte, auf jeden Fall Ostblock und ehemalige Sowjetunion aber ich befürchte es ist näher als Russland, auch wenn der deutsche Dialekt durchaus dem von „Filmrussen“ ähnelte, übertriebenes „ia“ und „rollende Buchstaben, dazu viel „nanananaa“ und „Schwäster, gib Wasser, Schwäster mach Fuß Hilfe in Bett!“, Schwäster, wann gibt`s Essen?“ Ein verrückter Kauz, echtes Original, ich glaube, wenn es ihn nicht gäbe ich hätte ihn für meine Tage im Krankenhaus erfinden müssen. Aber auch so einige andere Sachen, wie den verrückten Karl, der mir noch eine gute Reise wünschte und ein Zwinkern meiner Besucherin gegenüber andeutete. Haha, hab ich das nicht eben schon mal erzählt, sollte doch gar nicht so ein „Herr der Ringe“-eskes Verabschiedungszeremoniell werden und jetzt wiederhole ich schon Szenen, Als ich gegen 17 Uhr wieder auf meinem Raum war, hatte die Dialyse schon deutliche Spuren hinterlassen, vor allem mein Sack zog, als würde immer noch durchgängig Wasser gezogen, sehr unangenehm das. Wirklich sehr unangenehm. Vor allem als meine Eltern dann zu Besuch waren, um schon einmal die Reste meines eingeschleppten Hausstandes mitzunehmen. Tüdelidu, Fressflash, ob es in Bielefeld wohl auch so leckeres Essen gibt, fragte ich mich, warum drehen sich meine Gedanken nur noch um Essen, Weiber und den Umzug? Ist das denn echt so essentiell für mich derzeit? In einem Wort? JA!Ich überlegte vor dem Einschlafen eine Weile, wie ich mich von der sanftmütigen Nubierin verabschieden sollte, irgendwie fand ich, dass ich ihr wenigstens Tschüss sagen sollte, auch wenn Schwester Rabiata ja schon den Vorschlag eines Besuchs in den Raum geworfen hatte. Aber mit Nayla hatte ich irgendeine besondere Bindung, was Besonderes, eingebildet oder auch nicht, ich fand sie wirklich beeindruckend. Aber leider war ich weder der alte Draufgänger noch der neue jugendliche Held in Glanzgewand, sondern irgendwo doch bloß der gefallene Ritter in der rostigen Rüstung.