Vorweg, ich bin ein großer Fan des "alten" ESC mit all seinem Glanz, Glitter und Pomp, aber ich habe schon seit einigen Jahren gesagt, dass Deutschland ihn zu stiefmütterlich behandelt und sich nicht mehr reinhängt. Genauso empfand ich die Shows nach 2016, wo für mich der letzte phänomenale ESC stattfand, der dann aber durch die politische Aussage seines Siegertitels in meinen Augen deutlich seine Ideale verriet.
Trotzdem sitzt man als echter ESC-Maniac jedes Jahr davor und fiebert mit (meist wegen des oft blassen bis schlechten eigenen Beitrags für ein anderes Land bzw. einen Titel) und guckt sich die skurrilen bis großartigen Performances an, die in den letzten Jahren immer mehr das Lied als solches überstrahlt haben und man am nächsten Tag dann mal die ESC Playlist durchhört und merkt, dass kaum eines der Lieder wirklich Substanz hat, dass man es länger als die obligatorischen 3 Minuten ertragen kann, geschweige denn einen Sommer lang dazu feiert (wie es bei früheren ESC Siegern oder auch nur Teilnehmern oft war).
Ich dachte also bis vor kurzem, dass das ein generelles Problem der populären Musik ist, die ich ja selbst generell nicht so bevorzuge, wie bekannt ist. Gestern Abend wurde ich dann aber eines besseren belehrt und das ausgerechnet bei der "Ersatzveranstaltung", die der alte Fernsehhaudegen Stefan Raab aus dem Boden gestampft hat. Ähnlich wie vor Jahren beim Bundesvision Song Contest war das Sendungsprinzip aufgebaut, kleine lustige Filmchen vor den Beiträgen über das Land kündigten dann einen meist deutschlandweit bekannten Künstler an, der für dieses antrat.
Und diese Auftritte (live ist eben was ganz Anderes) waren zum Teil überwältigend und zwischendurch hatte ich das Gefühl, dass ich seit Jahren nicht so viel ESC gefühlt habe. Noch vor dem ersten Werbeblock sagte ich zu Emma: "
Das ist jetzt schon mehr ESC, als das Original in den letzten Jahren!" Und das Gefühl setzte sich fort, ausgelöst durch die musikalische Abwechslung und dennoch des Charmes, dass man auch ohne es zu wissen erkennen konnte, welches Land gerade auftrat. Auch wenn die Texte größtenteils in Deutsch vorgetragen wurden, waren es doch dann die Strophen oder Parts in Landessprache, die einen an die gute alte Zeit beim ESC erinnerten. Auch die detailverliebt eingestreuten Showdetails, wie Windmaschine, teilweise Choreos und Kostüme, die zur Schau gestellte affektierte Chemie zwischen Gätjen und Wurst gaben mir das Gefühl von ESC.
Der musikalische Teil ging schnell vorbei und war größtenteils sehr kurzweilig, was auch daran lag, dass man den Musikern den Spaß anmerkte, den sie hatten, auch wenn mal was schief lief, was im Original in den letzten Jahren mehr und mehr einer aufgesetzten Freude ob des Drucks und der Erwartungshaltung an die Künstler immer weniger geworden ist. Vielleicht war das auch der Hauptpluspunkt, den die Handschrift von Raab erkennen ließ, dass es um Freude an der Musik ging, darum einen tollen Abend zu haben, man hatte eh das Gefühl, dass es den Künstlern wichtiger war eine gute Zeit zu haben und nicht zu gewinnen.
Das zeigte dann auch der deutsche Beitrag, der zum Ende mit großen Worten angekündigt wurde, der auf Raab höchstpersönlich zugeschrieben war, denn ich kann mich nicht daran erinnern, dass Helge Schneider mal was mit dem ESC zu tun gehabt hatte, das hinterließ einen kleinen Nachgeschmack, der dann aber nach der ersten Zeile des dadaistischen Coronasongs von Helge Schneider wieder verflogen war.
Naja und dann natürlich die Punktevergabe mit Freunden und Familien der Künstler, ein paar bekannten Gesichtern aus Köln und ProSieben Umgebung, wobei die Schalte nach Mr. Spuck für den Mond ein echtes Highlight war gaben mir ein ESC-Gefühl, weil man wie früher alle Punkte live vergab, über Geschmack einzelner ließ sich natürlich vortrefflich streiten, das Tele-Voting zeigte dann eindeutig, dass die Masse einen ähnlichen Geschmack hatte zumindest im ProSieben Sendegebiet (ich fand aber auch den Astronaut am Besten). Gewonnen hatte dann der "leichteste" Song des Abends von Nico Santos, was wahrscheinlich dem derzeitigen Gefühl in Europa und der Hoffnung auf baldige "Re-Leichtigkeit" geschuldet war.
Insgesamt gab es aber auch wenig schlechte Musik im Line-Up, daher passt das schon irgendwie. Negativ aufgefallen ist mir, das Conchita Wurst vor allem zum Ende hin etwas drüber war und es etwas übertrieb mit dem letzten Outfit, war mir bisserl viel dann, aber ok, irgendwie war sogar das sehr viel ESC, wie ich ihn immer mochte.