3/20/2023

Kennenlernphase

Ich fühl mich jedes Mal wenn ich neue Leute kennen lerne in der Bredouille zwischen "Alles aus meinem Leben erzählen wollen" und "Nichts sagen, weil ich nicht so aufdringlich wirken will" entscheiden zu müssen. Die Meisten haben selbst nichts Interessantes erlebt mit Mitte 30 oder zumindest nicht bewusst. Da zweifle ich dann auch oft an mir selbst, ob ich nicht viel zu intensiv gelebt habe. Und wenn ich auch nur das geringste Zeichen zu erkennen glaube, dass ein Interesse an dem besteht, was ich zu sagen habe, geht es los. Und wenn meine Wortkaskade dann erst losplätschert sitze ich meist innerhalb sehr kurzer Zeit allein am Tisch.
Oft lernt man aber auch Menschen kennen, die einen gar nicht kennen lernen wollen, sondern einfach nur sich selbst und ihr perfektes Leben performen. Diesen Menschen geht es nicht darum, wirklich etwas zu erfahren, sondern viel mehr, alles was man erreicht, geleistet und erkämpft hat klein zu reden, um sich selbst nicht eingestehen zu müssen, dass sie knapp 40 sind und im Grunde noch nicht gelebt haben.
Wenn ich dann nach deren Selbstbeweihräucherungsphase, die meist so nach 10 Minuten dauerhaftem Nonsens Gesabbel von Arbeitsplatzgeschichten über Kegelverein bis Ex-Freund*in frage, ob sie denn schon einmal ein Leben gerettet haben, indem sie mit einer schwer verletzten Person geredet haben, damit diese nicht ins Koma fällt, bis die Ärzte ihn stabilisiert haben, ob sie schon Mal den Abend lang einer Mutter gut zugeredet haben, deren Kind verschwunden war, einen Suizidgefährdeten durch die Nacht begleitet, damit er sich nichts antut, dann wird es still.
Ich mache nichts davon beruflich, bin kein professioneller Seelsorger, Rettungshelfer oder Psychologe, ich suche die Situationen nicht, ich bin einfach dort, wenn es geschieht. Halte Hände, gebe Kraft, spende Trost. Ich will dafür nichts haben. Nur ein wenig mehr Respekt. Ich habe nichts Weltliches vorzuweisen (außer meinem Fernseher vielleicht), weil ich dafür keine Verwendung habe, es bedeutet mir nichts.
Ich höre die meisten eurer Gedanken in der Entstehung, lange bevor ihr wisst ob ihr euch die Mühe macht sie für eine Aussprache zu formulieren. Ich spüre die Verachtung, wenn ich mit meinen Einssechzig eine Frau date, die deutlich größer ist und im Normalfall auch sehr hübsch, weil ich es kann. Wie oft dreht ihr den Kopf und tuschelt dann, es geht euch doch gar nichts an. Seid ihr so unzufrieden mit eurem Leben, dass ihr das Anderer braucht, um euch zu bereichern? Ihr habt doch alles, was ihr braucht und wolltet, ein dickes Auto, ein Haus, eine Armbanduhr (für viele Statussymbole in der Reihenfolge). Ich habe nur meine Erfahrung und das, was ich bei mir trage (ist natürlich eine Zuspitzung).
Aber was interessiert mich überhaupt noch daran, neue Leute kennen zu lernen? Es ist Das Neue, das ewig Neue, die Nuancen sind wie eine Droge für mich. Sobald mein innerer Algorithmus eine Wiederholung findet, schaltet irgendwas mich in den Autopilot und ich verliere schnell das Interesse. Ich liebe es, wenn Menschen mich überraschen und abseits der Oberfläche Welten entstehen, die es zu erforschen, zu verstehen gibt. Jede Lebensgeschichte ist anders und jede Einzelne ist wert, dass man sie erzählt, nur haben viele einfach keine Bedeutung für mich, weil die erzählende Person sie nicht wert schätzt. Ich verstehe das oft nicht, denn die eigene Lebensgeschichte ist doch die Spannendste, die man je erleben wird. Ich hasse Auslassungen und Schönfärberei, Kennenlernen besteht nicht umsonst aus den beiden Worten Kennen und Lernen, es ist eine Erfahrung und sollte nicht in späteren Erinnerungen auf den Wein reduziert werden, oder das teure Restaurant in dem man ihn zu sich genommen hat.
Einmal hat sich jemand Wochen später wieder bei mir gemeldet und sich erkundigt, wie das Restaurant hieß, wo wir Essen waren, konnte sich aber kaum an meinen Namen erinnern, da fragt man sich doch echt, warum man sich überhaupt noch öffnet oder solche Treffen demnächst einfach schon nach dem *Hallo* beendet, wenn man merkt, dass die Chemie nicht stimmt.
Die Wahrheit ist ja nun auch, dass ich das schon seit Jahren nicht mehr mache, weil es mir unter Anderem einfach keinen Mehrwert mehr gibt.  
Und wenn ich DICH "treffe" gibt es Nichts davon, weil du unendlich bist, eine stete Form von Imperfektion im Wandel, dich liebe ich und stelle keinerlei Erwartungen auf Gegenliebe, es reicht mir Teil deiner Lebensgeschichte zu sein, so wie du Teil von meiner bist.

Wie ist das bei euch, habt ihr mal über eure Lebensgeschichte nachgedacht und euer Datingverhalten damit in Zusammenhang gebracht? Findet ihr langweilig sexy? Das würde mich zum Beispiel mal wirklich interessieren, was an langweilig anziehend ist? Ich habe eine Ahnung, aber schreibt mir gern per Mail, wird natürlich anonym und persönlich behandelt, danke ihr Lieben.
tickman.lifeentertainment@gmx.de

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