5 Uhr Nachts und
ich liege plötzlich wach, draußen tobt der Sturm und ich frage
mich, was bloß mit mir los ist, es geht mir irgendwie so gut, nicht
eingebildet oder stark geredet, einfach so gut, so als ob ich jeden
Tag etwas von der Last abwerfen kann, die mich so gepeinigt hat, als
würde ich von Grund auf erneuert und hätte die Chance bekommen, DIE
CHANCE, den alten Mr. Scrooge zu den Hunden zu schicken und es mit
dem neuen Elan und der neuen Power anzugehen. Weihnachten, es ist so
ruhig auf der Station, das könnte doch einen wundervoll chilligen
Tag bedeuten, wenn man mir nicht irgendwelche dämlichen Dinge in den
Weg wirft. Aber es deutet sich nicht an, dass meine innere Reinigung,
die „Traumabewältigung“ nicht fortschreiten könnte. Vielleicht
ist es dieser Ort, der es einfach sein musste, damit ich den Dämonen
der Vergangenheit endlich ins Auge lachen kann und ihrer nicht mehr
fürchte. Seit einigen Tagen ist es nicht mehr bloß der Wunsch hier
einfach heraus zu kommen sondern, hier heraus kommen zu können, weil
die Vergangenheit keine Schatten mehr auf mich wirft. Als noch völlig
unklar war, wie lange ich eigentlich hier hospitieren werde war ich
zerrissen, von meinen Gedanken zerfressen und im Zweifel mit mir,
ängstlich ob des Ortes, der Isolation, Münster, Kindheitstrauma,
wahrscheinlich ist einfach so viel von dem ganzen Cystinose und
Dialyse-Transplantationswahnsinn in meiner Vorjugend nicht
verarbeitet worden, dass ich mich jetzt 16 Jahre später mit
gestutzten Flügeln der Sache erneut stellen muss, aber auch erst
jetzt scheinbar dafür bereit bin und jede Erinnerung schlimmer wirkt
als die tatsächliche heutige Erfahrung, wie es wohl tatsächlich
war. Ich kann das nicht oft genug sagen, aber ich fühle mich von Tag
zu Tag wie ein neuer Mensch, besser, natürlich ist das vor allem
eine Wirkung der Medikamente und auch des allgemeinen
Gesundheitszustandes, denn die Psyche muss sich sicher wesentlich
länger erholen als ich mir das wünsche und ich habe noch einen sehr
weiten Weg zu gehen aber es fühlt sich gut an, wenn man sich wieder
an die Person erinnert, die man einst war, der Charmebolzen, der es
schafft, dass die halbe Station auf kurz oder lang nach seiner Pfeife
tanzt. Zwar scheinen einige der Ärzte mit meiner fröhlichen Art
nicht ganz klar zu kommen, scheinbar muss ich weiterhin depressiv und
traurig sein, damit ich nicht aus dem Rahmen falle, aber was wenn
genau dieser Teil von mir sich von mir abgeschält hat, wie morsches
Holz, das von einer gesunden Rinde blättert. Freuen sollten sie
sich, dass ich Tag für Tag das Leben ein wenig mehr zu schätzen
weiß, ihnen dankbar bin, dass sie mir ermöglichen noch einmal so
fühlen zu lernen, vielleicht sind sie ja auch bloß neidisch, dass
ich das Positive in meinem ganzen Unheil gefunden habe und die
Disziplin habe mich nur noch daran aufzurichten, alles Negative
auszublenden, nur noch das Ziel vor Augen wieder Alex zu sein. Der
Alex, den nicht nur ich absolut geliebt habe. Mein Äußeres ist
schon ein recht deutliches Signal, wie es mir geht, ich laufe nicht
mehr in den Lumpen herum, in denen ich eingeliefert wurde, die Frisur
benötigt morgendliche Pflege, die ich ihr angedeien lasse, ein
winziges Detail, dass ich in den letzten 2 Jahren nahezu ignoriert
habe, ich hatte ja nicht einmal mehr einen anständigen Kamm, um
durch meine Yeti-Mähne zu kommen.
Gerade erfuhr
ich, dass man mich hier schnellstens loswerden will, da man scheinbar
nicht in der Lage ist mir Personal für die „CAPD-Schulung“ zur
Verfügung zu stellen. Eigentlich ist das ja traurig, allerdings ist
das ganze ja nun wirklich nichts, was man so dermaßen hoch hängen
muss, wenn es nur das ist, was ich da gestern bei der Erstspülung
gesehen hab, dann sollte es doch reichen, mir das zwei oder drei mal
zu zeigen und dann probiere ich es aus und dann läuft das. Angedacht
war jetzt von Ärzteseite scheinbar eine Verlegung an den Bünder
Dienst, weil zwischen den Feiertagen einfach hier keine Kapazitäten
seien und ich hier die Tage bloß absitzen müsste, das könnte ich
aber wohl auch in Bünde oder Bielefeld, wenn ich das richtig
verstanden habe. Wow, es fühlt sich fast so an, als würde ich auf
ein Ziel hin fiebern können, ein erhabenes Gefühl, wenn die
Nebelschwaden den Schicksalsberg freigeben und der Ringträger nur
noch seine letzte Aufgabe erfüllen muss und den von Sauron
geschmiedeten Meisterring ins Feuer werfen muss. Wobei das
entscheidende Wörtchen wohl das „NUR“ ist, denn die Gefahren
werden weiterhin an der Seite des Helden bleiben, sie sind seine
Triebfeder, sein Antrieb und Strom, sie sind das, was ihn
letztendlich zum Erfolg verdammt, der Held zu sein.
Ich glaube
"Schwester Rabiata" hatte nicht so einen tollen Tag bislang, ich habe
sie noch gar nicht verzweifelt leicht verwirrt lachen hören, aber
vielleicht sollte ich mir viel weniger Gedanken darum machen, das
Personal zu analysieren, auch wenn ich mich ja schon frage, warum
heute so etwas Grandioses aus der Küche kam, zartester
Schweinebraten an Kartoffeln mit einer unglaublichen Soße auf
Bohnengemüse. Als Dessert gab es dann noch einen Schokopudding über
Pfirsich garniert mit Mandelsplittern und zwei Stücke feinsten
Christstollen, den ich mir jetzt noch einverleibe, nachdem ich den
Gesamteindruck des Mittagsmals verarbeitet habe und einfach nur
geflasht bin, wie lecker Essen sein kann. Ich hoffe, dass ich vor
allem diesen Aspekt mit hier heraus nehmen kann, jegliches Essen zu
mögen und den Geschmack voll entfaltet spüren zu können. Am Hunger
sollte es nicht mangeln. Vielleicht schaffe ich es ja, doch noch so
etwas wie ein guter Koch zu werden und dann auch Gerichte die ich
eigentlich gar nicht mag in Köstlichkeiten zu verwandeln. Ich glaube
eigentlich mag ich gar keinen Christstollen, dennoch schmeckt er
faszinierend. Es kann doch nicht bloß der Hunger sein, der einfach
ALLES hineintreibt in den ungesättigten Schlund meiner Gier. Ich
komme immer wieder darauf zurück, dass mein Körper das Leben
komplett neu erfährt dieser Zeiten, es ist wie neu geboren zu sein,
alles ist neu und aufregend und doch hat man schon so viele
Erfahrungen und im Hinterkopf spricht Yoda die magischen Worte,
„Vergessen was du weißt, du musst!“
Ich glaube der
Schnarcher nebenan ist absolut unglücklich, sein Shunt funktioniert
nicht, jeden Tag muss er sich mit Überwässerung abfinden, wird
allmorgendlich gequält und sieht, wie es mir immer besser geht, auch
wenn ich versuche es nicht allzu deutlich zu machen, andererseits
könnte er ja auch mal versuchen sich an mir ein Beispiel zu nehmen
und mit Freundlichkeit und Disziplin die positiven Seiten allen Übels
zu erkennen und mit ein wenig „Hakuna Matata“ und einer gesunden
Portion Humor auch mal über die eigenen Defizite zu lachen und nicht
ständig zu klagen und zu hadern, denn das hilft weder ihm, noch mir,
noch jedem der ihm helfen möchte sondern sorgt bloß für Frust und
auf Dauer Ablehnung, weil der Mensch sich nicht auf Dauer mit dem
Scheitern beschäftigen möchte. Eine negative Einstellung führt
aber auf dem langen Weg der Abwärtsspiralnebel irgendwann genau dort
hin und nur dort hin. In den Abgrund des Scheiterns, ich könnte
Buchbände darüber erzählen, wie das Leben einem mitspielen kann
und wie oft man die Chance wahrnehmen kann sich zu ergeben und es zu
zu lassen. Aber das mache ich nicht mehr, ist einfach sinnlos, weil
es nur nach unten führt... und Unten ist einfach keine Richtung, die
Sterne anstreben sollten.
Irgendwie glaube
ich, dass die nubische Prinzessin genau die richtige für mich wäre,
wenn man sich unter anderen Umständen kennen gelernt hätte. Ich
weiß nicht, wie viel von den Andeutungen ihrerseits wirklich im
Falle eines Falles ernst gemeint wären, aber ich glaube, dass sie
schon eine richtig versaute Krankenschwester ist und seit sie ihr
Haar offen trägt und im fahlen Mondlicht nachts in mein
Patientenzimmer schleicht kann icb nicht sagen, dass ich sie nicht
deutlichst attraktiv finde. Sogar so sehr, dass Sir Lancelot sich mal
wieder blicken lässt, ich hatte ja schon Angst vor Impotenz gehabt,
aber auch an dieser Front scheint wieder alles im relativen Lot zu
sein. Das freut einen doch irgendwie. Ich sollte vielleicht mal so
langsam anfangen, die Bilder zu konservieren und mich auf die Zeit
nach dem Krankenhaus vorbereiten, wo nicht jede zweite Frau den
Anschein macht, dass sie genau die richtige für dich ist und dabei
auch noch so devot daherkommt, dass sie einem vor dem Schlafengehen
ins Ohr flüstert, dass man nur klingeln muss, wenn man irgendetwas
brauchen würde, egal was. Wer käme da nicht auf schmutzige
Gedanken. Das ganze wird immer mehr wie ein versauter Traum in meiner
Krankenschwesterfetischwelt und die einzige Person mit der ich das
bespreche scheint zu denken, dass ich jetzt aus reiner Notgeilheit
auf sie stände, klingt als würden sich da endlich wieder normale
Probleme anbahnen, die so jeder attraktive junge Kerl meines Alters
hat.